· 

Hier bin ich Mensch, hier kauf’ ich ein …

Potentiale Lokale Ökonomie Mülheim

Einkaufsstraßen/-zentren in Mülheim.
Einkaufsstraßen/-zentren in Mülheim.

von Kenan Zöngör

Fotos: Eva Rusch 

 

Der niederländische Architekt Rem Koolhaas meint, Einkaufszentren seien die Kathedralen der Gegenwart, Einkaufsstraßen die modernen Pilgerwege. Diese beschreiten die Menschen um Austausch, Inspiration und Sinn zu finden.

 

So kritisch man dieser Überhöhung des Konsums gegenüberstehen kann, bilden Einkaufsmöglichkeiten für Viele einen wesentlichen Bestandteil ihrer Lebensqualität. Gleichzeitig ist der Einzelhandel als Arbeitgeber und wirtschaftlicher Akteur ein wichtiger Impulsgeber für den Standort Köln.

 

Bevor wir uns den Einkaufsstraßen in Mülheim widmen, betrachten wir das städtische Entwicklungskonzept für den Einzelhandel. Dies ist auf der Website der Stadt Köln unter folgendem Link zu finden: https://bit.ly/2VEU2Xu

 

Die wesentlichen Zahlen basieren allerdings auf Erhebungen aus dem Jahr 2007. Laut diesem Konzept möchte die Stadtverwaltung den zentralen Einzelhandel in Köln stärken für Wirtschaftswachstum, Beschäftigungssicherung und Shoppingtourismus.

 

Dem Einzelhandel in den Bezirken fallen folgende wichtige Rollen zu: Die wohnortnahe Versorgung, die Stärkung des öffentlichen Lebens und der Kommunikation sowie die Identifikation mit dem Bezirk und seinen lokalen Strukturen.

  

Förderziele sind lokaler vielfältiger Einzelhandel, ausreichende und leicht erreichbare Angebote auch für nicht motorisierte Kölner*innen und die Anpassung an den demographischen Wandel, der in den Bezirken unterschiedlich verlaufen kann. Zu vermeiden seien die Ansiedlung von großen Ketten, Einseitigkeit, zunehmende Leerstände.

 

Der Bezirk Mülheim, der 10 % der Einzelhandelsbetriebe der Stadt beherbergt, ist laut Konzept herausgefordert vom Strukturwandel und Abwanderung. Dies ist zum Teil bereits durch die Realität widerlegt. Mülheim wächst und die Empfehlungen im Konzept gründen auf falschen Annahmen. Hier ist eine Korrektur überfällig.

 

Dennoch ist die aktuelle Arbeitslosenquote im Bezirk Köln weit überdurchschnittlich (8 % im Kölner Durchschnitt, 13 % bei uns). Das durchschnittliche Pro Kopf Einkommen in Köln liegt bei circa 22 Tausend Euro, in Mülheim ist es im Vergleich circa 10 % geringer, da etwa ein Viertel der Menschen Transferleistungen beziehen.

 

Unter diesen Aspekten stellt sich die Frage: Wo kann man nun einkaufen im Stadtteil Mülheim und wie? (Der Bezirk Mülheim mit seinen 9 Stadtteilen wäre eine eigene Mülheimia Ausgabe wert.)


Von Wien nach Frankfurt

Wiener Platz und Frankfurter Straße

Vom Wiener Platz bis zum Mülheimer Bahnhof führt die Haupteinkaufsstraße des gesamten Bezirks. Im Einkaufszentrum am Wiener Platz und entlang der Frankfurter Straße befinden sich über einhundert Betriebe. Über die Hälfte bieten Produkte für den kurzfristigen Bedarf, das heißt Lebensmittel einschließlich Gastronomie, Pflegeprodukte und Gesundheitsartikel. Die andere Hälfte teilt sich gleichmäßig in Mittelfristbedarf wie Bekleidung und Langfristbedarf – hier Hausrat, Einrichtungsartikel und Schmuck. Auf dem Wiener Platz findet dreimal in der Woche ein Wochenmarkt für Obst und Gemüse statt.Einerseits gibt es auf der Frankfurter Straße besondere Geschäfte wie den 

Qualitätsmetzger, den alteingesessenen Biomarkt, besondere Lebensmittel aus Asien und einen inhabergeführten Weinhändler. Andererseits setzen viele Geschäfte auf Niedrigstpreise und geringe Nachhaltigkeit. Gerade durch Zwischennutzungen zum Teil längerfristiger Leerstände durch Restpostenverkauf, 1-Euro-Läden und Saisonbetriebe, wie einen Karnevalsdiscounter, verschiebt sich das Gewicht zu geringer Qualität. Auch das massive Müllproblem lässt Wiener Platz und Frankfurter Straße stellenweise verwahrlost und unwirtlich aussehen.

 

Möglichkeiten und Chancen: Vor allem die Leerstände lassen sich durch neue Vermietungskonzepte und moderatere Mietforderungen vermeiden. Die Ansiedlungen von neuen Betrieben kann mit der Perspektive der Ansiedlungen am alten Güterbahnhof und Mülheim Süd stärker gefördert werden. Die Stadt Köln sollte die Interessengemeinschaft der Einzelhändler (IG) hinsichtlich gemeinsamer Initiativen beraten. Gegen den Müll starten Workshops und städtische Programme, aber ohne die gemeinsame Anstrengung der Betriebe und der Mülheimer*innen wird es nicht gelingen: Mehrwegtaschen, Vermeidung von Verpackungen und Disziplin bei der Müllentsorgung an öffentlichen Plätzen ist eine Gemeinschaftsaufgabe.

„Die Lage für den Einzelhandel ist 

insgesamt schwierig in diesen Tagen. Neue 

Konzepte sind gefragt. Wir wollen mit unserem großen 

Fest „Mülheim rockt ab“  im Mai 2019 auf dem 

Wiener Platz ein Zeichen setzen für die Tatkraft und Attraktivität Mülheims.“

Helmut Zoch, IG Frankfurter Straße, C/O Zoch Catering, 

Wiener Platz 2, 51065 Köln

Wiener Platz:

Einzelhandel/Supermärkte 13

Bäcker 1

Gastro/Imbiss 5

Mobilfunkanbieter 3

Juwelier 1

Friseur/Schönheitspflege 3

Apotheke 1

Drogerie 1

Optiker 1

Hörakustiker 1

Schuster 1

Wochenmarkt dreimal wöchentlich dienstags, donnerstags und samstags

 

 

Frankfurter Straße:

Einzelhandel/Supermärkte 33

Bäckereien 9

Metzgereien 1

Gastro/Imbiss 9

Mobilfunkanbieter 2

Juwelier 6

Friseur/Schönheitspflege 14

Apotheken 5

Drogerie 1

Optiker 3

Hörakustiker 1

Blumenläden 2

Sanitätshaus 1

Parfümerien 2

Reisebüro 1

Reinigungen 2

Leihhäuser/Pfandhaus 2


Auf der anderen Seite

Buchheimer Straße

Jenseits des Clevischer Rings – vom Wiener Platz erreichbar durch eine Fussgängerunterführung – verläuft die Buchheimer Straße zum Rhein hinunter. Die Straße mit ihren 30 Geschäften zeichnet eine mögliche zukünftige Entwicklung des Einzelhandels in Mülheim. Am Beginn prägen zwei Supermärkte das Bild, welches hier noch wie eine Spiegelung des Wiener Platzes wirkt. Aber wenn man in Richtung Rhein läuft, fällt auf, wie sich eine urbane Mischung entwickelt. Eine Boutique für Kinderkleidung, ein ambitioniertes Fahrradgeschäft, Fitnessangebote bis hin zur Kreativzelle an der Mülheimer Freiheit mit Frozen Yoghurt, Up-Cycling Wohnaccessoires und einem Café, das die Keimzelle der Mülheimer Nacht bildet.

 

Allerdings gab es kürzlich immer wieder Gewalt um zwei Kneipen und massiven Polizeieinsatz. Zudem hat die Baustelle Mülheimer Brücke die Verbindungen nach Altmülheim stark eingeschränkt, sodass der Einzelhandel auf der Buchheimer Straße infrastrukturell gefährdet ist.

 

Möglichkeiten und Chancen: Die Buchheimer Straße ist eine Art Einzelhandelslabor, eine Mischung aus Mini-Prenzlauerberg am Ende und Supermarkt-Discounter Ensemble am Beginn. Nicht nur wegen der Parkplatzsituation und den Baustellen bietet sich die Gelegenheit, autofreien Verkehr auszuprobieren durch exklusive Fahrradwege, Lastenräder, Minielektrobusse und besondere Angebote für Fußgänger (wer zu Fuß kommt, erhält ein 5 % Nachlass).

 

Für eine Übergangszeit vom Individualverkehr zum Mobilitätshub (s. o.) könnte ein vertikales Parkhaus mit geringer Grundfläche gebaut werden, das man nach der Verkehrswende einfach wieder zurückbauen könnte.

 

Am Rhein und in naher Zukunft auch in Mülheim Süd gibt es ausreichend junge Leute und Familien, die diese Mischung besonders zu schätzen wissen (werden). Natürlich nur, wenn das Gewaltproblem an den Kneipen gelöst wird.

„Die Sanierung der Buchheimer im

Jahr 2013 hat sich positiv ausgewirkt trotz aller Unbill und Schwierigkeiten für die Geschäftsleute. Sorge bereitet mir jetzt allerdings die Sanierung der Mülheimer Brücke. Schon heute klagen die Geschäfte über rückläufige Umsätze.“

Christiane von Scheven, IG Buchheimer Straße, 

Buchheimer Straße 29

Buchheimer Straße
Buchheimer Straße

Einzelhandel/Supermärkte 9

Bäckereien 3

Cafés 3

Kneipen 4

Blumenläden 2

Working Spaces 2

Kreativwirtschaftler/Architekten 2

Friseur/Schönheitspflege 2

Apotheken 3

Ärzte/Zahnärzte 5

Kreativwirtschaft und Working Spaces in der Buchheimer Straße.
Kreativwirtschaft und Working Spaces in der Buchheimer Straße.
Extravagantes Interior Design von Iris von Sperrmüller auf der Buchheimer Straße/ Ecke Mülheimer Freiheit
Extravagantes Interior Design von Iris von Sperrmüller auf der Buchheimer Straße/ Ecke Mülheimer Freiheit

Goldstandard

Keupstraße

Auf dem Clevischen Ring in Richtung Norden gelangt man nach wenigen hundert Metern zur Keupstraße. Die Keupstraße, genauer der Teil zwischen Schanzenstraße und Holweider Straße, ist überregional bekannt für seine zahlreichen Grillrestaurants, die vor allem türkische Küche und Gebäck anbieten. Aber nicht nur diese ziehen Kunden aus Köln und ganz Nordrhein-Westfalen an. Neben den 13 Restaurants gibt es fast genauso viele Juweliere, sogenannte „Import-Export“ und Elektronikfachhandel. Hier kaufen Familien Geschenke für Hochzeiten, wichtige Feste und investieren traditionell in Goldschmuck als eiserne Reserve für unsichere Zeiten. Bei Bedarf kann man sich für die Feste auch noch Haare und den Rest bei Friseuren, Schönheitssalons und Dekorationsläden verschönern lassen.

 

Das Müllproblem auf der Keupstraße entsteht vor allem durch die Verpackungen für Kleingerichte „auf die Hand“, die häufig vor Ort verzehrt werden. Der Müll landet dann nur selten in den wenigen Mülleimern. Außerdem sind viele Unternehmer große Anhänger der Plastiktüte, die hier noch kostenfrei angeboten wird und in die alles unaufgefordert eingepackt wird.

 

Möglichkeiten und Chancen: Durch das Medienquartier nebenan, die Veranstaltungsorte E-Werk und Palladium und die Bebauung des alten Güterbahnhofs ist das Potential für die Gastronomen auf der Keupstraße nahezu unendlich. So will ein türkischer Unternehmer sogar ein spezielles Honeymoon Hotel auf dem Güterbahnhofsgelände errichten. Allerdings ist die Fläche begrenzt und die Enge der Straße, die auch ihren Charme ausmacht, sorgt für Staus. Wie bei den anderen Einkaufsstrassen wird es noch wichtiger, mit den Gastronomen ein Müllvermeidungskonzept umzusetzen. Außerdem ist eine Sperrung der Keupstraße für den Autoverkehr zu den Stoßzeiten für die Restaurants am Abend möglich. Somit könnte die Aufenthaltsqualität steigen und eine Miniverkehrswende eingeleitet werden. Ein „Park & Ride“ Konzept, Kebapshuttles zu Parkplätzen an der Mülheimer Peripherie, sowie Leihräder und nicht zuletzt die Straßenbahn bringen im Mix weniger Feinstaub und mehr „mit alles & scharf“. Die Keupstraße ist eine echte Marke.

„Wir sind in der Gründung eines Nachbarschaftsvereins, der das Zusammenleben der Anwohner im Quartier rund um die Holweider Straße, Genovevastraße und Zehntstraße stärken soll. Die Geschäftsleute in der Keupstraße sind gerne unsere Projektpartner.“

Hanna Ungar, Mit-Organisatorin des 

Nachbarschaftsfestes „Zehntstraße“

Keupstraße
Keupstraße

Einzelhandel/Import-Export 19

Bäckereien/Konditoren 5

Gastronomie 13

Juweliere 12

Friseur/Schönheitspflege 6

Reisebüros 2

Neben Gastronomie und Bäckereien gibt es erstaunlich viele Juweliere auf der Keupstraße.
Neben Gastronomie und Bäckereien gibt es erstaunlich viele Juweliere auf der Keupstraße.

Kulturmeile

Berliner Straße

Die Berliner Straße mausert sich zum Kulturzentrum des Stadtteils. Hier befinden sich der Kulturbunker am Berliner Platz und die MüTZe am Park nur wenige Meter voneinander entfernt. Die neue Verkehrsführung und ein Kreisverkehr haben die Straße beruhigt und die beiden Zentren haben gerade in den letzten Jahren die Straße belebt. Das Angebot für Lebensmittel ist groß und zwei Mal in der Woche findet auf dem Platz an der Berliner Straße ein Wochenmarkt statt. Am Beginn der Straße gibt es einen etablierten Elektrogroßgerätehandel und ein Teppichlager, die regional bekannt sind. Zwischen diesen beiden Polen fehlt derzeit der Mittelbau für den mittelfristigen Bedarf. Leider gibt es auch auf der Berliner Straße immer wieder Leerstände. Allerdings gibt es Initiativen, diese nachbarschaftlich und kreativ zu nutzen, etwa als „Nachbarschaftsladen“ oder selbstorganisiertes Repair-Café.

 

Möglichkeiten und Chancen: Durch den Kulturbunker wächst das Angebot an Ausstellungen und Konzerten. Im Einzugsgebiet des Medienquartiers, in dem in naher Zukunft auch mediennahe Studiengänge angeboten werden sollen, ist mit dem Zuzug von Kulturschaffenden, Studenten und Künstlern zu rechnen. Um die Berliner Straße kann eine neue alternative Szene entstehen, die die Nutzung des bestehenden Einzelhandels stabilisiert und an alternativen Nutzungen wie z. B. selbstverwalteten Bioläden, Kunsthandwerksbetrieben oder Galerien mitwirkt. Die Kultur, um die es hier geht, ist keine Satellitenkultur etablierter Institutionen oder Trabant eines zentralen Kulturauftrages, sondern (ja, es muss der zugegebenermaßen strapazierbare Begriff sein) authentische Kultur aus und für Mülheim.

„Die Berliner Straße ist ein Ort für 

Toleranz, Verständnis und Zukunft. In der 

Berliner Straße leben Migranten und Deutsche zusammen und grüßen sich herzlich.“

Ali Demir, Vergi-Lohnsteurhilfe e. V.,

Berliner Straße 68

Festival Miteinander – Füreinander 2017 auf der Berliner Straße
Festival Miteinander – Füreinander 2017 auf der Berliner Straße

Einzelhandel/Supermärkte 14

Bäckereien/Konditoren 4

Imbisse 5

Juweliere 1

Blumenladen 1

Friseur/Schönheitspflege 8

Apotheke 1

Physiotherapie 1

Reisebüro 3

Kulturelle und soziale Einrichtungen 8

Wochenmarkt Schützenplatz zweimal  wöchentlich dienstags und freitags

Markthalle an der Berliner Straße.
Markthalle an der Berliner Straße.

Abschließend stellt sich die Frage, wie sich die Einkaufsstraßen in das Entwicklungskonzept der Stadt einfügen. Tatsächlich finden sich zu allen Mülheimer Einkaufsstraßen dieselben Befunde:

  • geringe Aufenthaltsqualität
  • labile Geschäftssituation /
  • Leerstände
  • fehlende Ausgewogenheit

Diese bereits über 10 Jahre alte Analyse, die noch immer zutrifft, war einer der Ansatzpunkte für das Strukturförderprogramm MÜLHEIM 2020, das gezielt diesen Schwächen entgegenwirken sollte. Bis zum Abschluss des Programms im Jahr 2014 waren vor allem Sanierungen und bauliche Maßnahmen durchgeführt worden, wie die Änderung der Verkehrsführung Berliner Straße oder die Verbesserungen der Fußgängerfreundlichkeit auf der Frankfurter und Buchheimer Straße.

Weniger spürbar ist die nachhaltige Belebung des Einzelhandels und eine größere Ausgewogenheit des Angebotes durch das Wirtschaftsbüro des Programms MÜLHEIM 2020. Hier bedarf es weiterhin der strukturellen Unterstützung und Organisation der Einzelhändler. Hier bleibt die Stadt in der Pflicht, da die neuen Bebauungen am Güterbahnhof – hier wird zum Beispiel Siemens bereits 2020 große Büroflächen nutzen - und in Mülheim Süd den Stadtteil nicht nur infrastrukturell enorm herausfordern.

 

Die nur zögerliche Gründerförderung muss wiederaufgenommen werden. Da die Leerstände nicht wesentlich reduziert werden konnten, müssen neben einer Anpassung der Mieten auch alternative Nutzungskonzepte ohne ökonomischen Druck erprobt werden können. Hier entscheidet sich, ob die Einkaufsstraßen ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Impulse für den Stadtteil geben können.

 

 

Es liegt nun an uns, die Politik an diese Verpflichtung zu erinnern. Es liegt auch an uns, die ersten Schritte zu schöneren Einkaufsstraßen zu tun: Hingehen, austauschen, inspirieren lassen und natürlich auch sinnvoll einkaufen!


Kommentar schreiben

Kommentare: 0