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Neue Straßennamen braucht das Land!

Das letzte Foto der Familie Schild 1939, Erwin Schild ist der Zweite von links.
Das letzte Foto der Familie Schild 1939, Erwin Schild ist der Zweite von links.

von Vera Sturm

 

Kritischer Umgang mit der europäischen Vergangenheit ist schon lange ein wichtiges Thema. Häufig braucht es einen gewissen zeitlichen Abstand, um schwierige Themen gesellschaftlich aufzuarbeiten. Erst im Juli 2022 wurde entschieden, dass Kunstobjekte, die Ende des 19. Jahrhunderts in Nigeria gestohlen wurden und sich seitdem in Berlin befanden, wieder nach Afrika zurückkehren. 

 

Besonders Straßennamen und Denkmäler zeugen bis heute von Imperialismus, Kolonialisierung und stammen aus der Zeit der Industrialisierung. Viele Menschen können die Straßennamen nicht zuordnen und wahrscheinlich interessiert es sie auch nicht weiter. Und so leben manche unbemerkt in Straßen, die nach brutalen Feldherren benannt sind. In Ehrenfeld betrifft das die Wißmannstraße, die nach Hermann von Wissmann benannt ist, der im 19. Jahrhundert als Afrikaforscher einen Aufstand in Ostafrika niederschlug. Dort gibt es eine Initiative zur Umbenennung und die Chancen stehen gut, da Berlin und Bochum ihre Wissmannstraßen bereits losgeworden sind. 

 

Wie sieht das in unserem schönen Mülheim am Rhein aus? Es fällt auf, dass viele Straßen nach Städten und Stadtteilen benannt sind und häufig auch zum beschriebenen Ort führen wie z.B. die Deutz-Mülheimer Straße einen entweder nach Deutz oder Mülheim bringt. Ein vielleicht problematischer Name ist der Wiener Platz, der 1938 umbenannt wurde und vorher Oskar Platz hieß, nach dem Landrat Oskar Danzier, an den heute mit der Danzierstraße erinnert wird. Zufälligerweise nahmen 1938 die Nazis Österreich ein. Ein anderer Erklärungsansatz möchte den Wiener Platz mit dem Wiener Kongress 1814 in Verbindung setzen, auf dem Europa nach dem Sieg über Napoleon neu sortiert wurde. Naheliegender wäre noch die engen Handlungsbeziehungen des Seiden- und Samtstoff Unternehmen der Familie Andreae aus Mülheim zu Wien. Nichtdestotrotz hat der Wiener Platz bestimmt manchen Erstbesucher*innen des Platzes ein wenig Freude bereitet, als er oder sie feststellte, dass der Wiener Platz nicht ganz so viel Charme versprüht, wie die österreichische Hauptstadt, aber das liegt natürlich auch im Auge des Betrachtenden. Vielleicht sollte der Platz deshalb auch seinen Namen behalten, da dieser wahrscheinlich sein kleinstes Problem ist.

 

Der brisanteste Straßenname, den wir in Mülheim haben, ist die Fritz-Lehmann-Straße in Mülheim-Nord, die vom Clevischen Ring Richtung Rhein verläuft. Eigentlich wäre es höchste Zeit einen Antrag auf Namensänderung zu stellen, da Fritz Lehmann neben seiner Position als Generaldirektor bei Felten & Guilleaume, auch Wehrwirtschaftsführer der NSDAP war und 1941/42 für die Partei im Mülheimer Rat saß. 

 

Ich schlage vor die Straße nach Erwin Schild zu benennen. Der 102-jährige Rabi wurde 1920 in Mülheim geboren und konnte aus dem Konzentrationslager in Dachau nach England fliehen. Dort wurde er erneut verhaftet und nach Kanada deportiert, wo er schließlich sein Studium abschloss und seit 1947 als Rabi tätig ist.

 

Schild schrieb Bücher, lehrte an Universitäten und setzt sich für den Austausch zwischen den Religionen ein. Er ist nicht nur Mitglied der Order of Canada, sondern erhielt auch eine Ehrendoktorwürde der Universität Osnabrück und das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

 

 

Seinen Bezug zu Mülheim verlor er nie, ging er doch mit dem leidenschaftlichen Mülheim-Sammler Heinz-Otto Nickolay zur Schule und besuchte ihn während seiner Deutschlandbesuche in Mülheim. Auch mit der Mülheimer Geschichtswerkstatt hat er zusammen gearbeitet und neben seinen Erinnerungen auch Fotos bereit gestellt.

 

Ansonsten erinnern einige Straßennamen an die gute alte Zeit, als Mülheim noch eine unabhängige Stadt war und man sich sonntags im Schützenverein traf und Soldat noch für viele eine Berufsoption war. Die Hacketäuerstraße, benannt nach dem Infanterieregiment der Hacketäuer, die wiederrum eine legendäre Einheit des preußischen Offizier Otto Christoph von Sparr war, könnte auch einen neuen Namen vertragen. Die Legende der Hacketäuer erzählt, dass sie mit ihren Gewehren auf die Franzosen 1813 eingeschlagen haben sollen, als die Gewehre durch Regen unbrauchbar wurden. Dabei riefen sie „Hacke tau!“ – et geit fort Vaterland“, was so viel wie „Schlag zu – es geht ums Vaterland“ heißt und sie zum Sieg geführt haben soll. 1894- 97 erbaute man in Mülheim-Nord eine 70 000 qm große Kaserne, in der die Hacketäuer einzogen. In Mülheim verlor die Kaserne und die Hacketäuer schnell ihre Bedeutung, als von 4 402 Hacketäuern gerade mal 200 den Ersten Weltkrieg überlebten. Mir ist bewusst, dass unsere romantisierten Industriequartiere und Gründerzeithäuser aus genau dieser Zeit stammen, als man Feldherren noch cool fand und gerne an dieses Erbe anschließen wollte. Heute sind sie nicht mehr Teil des allgemeinen Geschichtswissens und auch in der Schule werden sie kaum erwähnt, dabei wäre Aufklärung über die deutsche Kolonialgeschichte sehr wichtig, da so rassistische Stereotypen weiter verbreitet wurden. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt sich von diesen Namen zu lösen und die Stadt ein Stück weit in die heutige Zeit zu übertragen und einer aufgeklärten Generation zu übergeben.

 

Welche Namen könnten die Straßen alternativ tragen? Euphorisch habe ich meinen Artikel begonnen und merke, dass das gar nicht so einfach ist. Ich frage andere Mülheimerinnen und eine Sammlung entsteht: Hülya Sahin, Box-Weltmeisterin, Theophanu, byzantische Kaiserin und Köln-Liebhaberin oder Angelika Hoerle, Dadaistin und Grafikerin? An dieser Stelle komme ich nicht weiter und freue mich über Vorschläge und Anregungen.

 

Abschließend möchte ich die spanische Dokumentation „El silencio de otros“ (dt. „Das Schweigen der Anderen“) empfehlen, die zeigt, dass Straßennamen alles andere als trivial sind. Konkret geht es um Menschen, die während der Diktatur Francos gefoltert und gefangen genommen wurden und nun in direkter Nähe einer Madrilener Straße leben, die nach ihrer/m Peiniger*in benannt ist.

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Jörg "Yadgar" Bleimann (Dienstag, 27 Juni 2023 20:54)

    Also, ich bin ja vor dem Hintergrund über 100jährigen Verbundenheit Deutschlands mit Afghanistan (und das meine ich jetzt ohne jede Ironie!) der Meinung, dass man den Wiener Platz in Kabuler Platz umbenennen sollte - auch weil zum einen in Mülheim viele Exil-Afghanen leben, zum anderen, weil man die dort verlaufende Bundesstraße 8 (Frankfurter Straße) von Emmerich nach Passau auch als die von Deutschland aus gesehen erste Etappe des historischen "Hippie Trail" nach Afghanistan, Indien und Nepal betrachten kann!