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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Plattenbörse in der Mülheimer Stadthalle

Von Francesco Aneto

Fotos: Eva Rusch

 

Dreimal im Jahr macht die Mülheimer Stadthalle der Frankfurter Börse Konkurrenz. In Sachen rastloser Aufmerksamkeit und fiebriger Erwartung kann sie es an diesen Tagen locker mit dem dortigen Parkett aufnehmen. Dann pilgern die Jünger des „Schwarzen Goldes“ teils von weit her in das in den 60er Jahren gebaute zentral am Mülheimer Stadtgarten gelegene Gebäude. Architekturpreise hat die 1 400 Besucher*innen fassende Stadthalle nachvollziehbar nie errungen, aber der zweckmäßige Beton-Glas-Bau leistet zuverlässig seit seiner Errichtung treue Dienste. Seitdem sind hier auch viele, teils erst später populär gewordene Bands aufgetreten, darunter: Blue Öyster Cult, Whitesnake, Metallica, The Cure und die Dire Straits.

 

Seit vielen Jahren beherbergt dieser heimliche Tempel der Rockmusik auch die „Schallplatten-Börse“. Streng genommen den selten Fall einer „fahrenden Börse“, denn unter diesem Label schlägt sie zweiwöchentlich wechselnd ihre Zelte in verschiedenen Städten im Land auf. Viele folgen der Börse in einem nie nachlassenden Strom nach Bonn, Oldenburg, Münster, Oberhausen, Dortmund und Lingen (wo immer das liegen mag) und sogar zu Auslandstrips ins nahe Luxemburg. Köln gilt aber unter den mobilen Platten-Börsianern*innen als eines der Highlights.

 

Entsprechend erwartungsvoll trete ich an einem Sonntagvormittag am Tag der Arbeit 2019 in die Stadthalle ein, deren großes zweigeteiltes Foyer heute den Händlern*innen des „Schwarzen Goldes“ in Gestalt von zigtausenden Vinylscheiben vorbehalten ist, die daneben auch noch andere benachbarte Waren, wie CDs, DVDs, Bücher über Musiker, Poster, Fanartikel, kleine mobile Plattenspieler etc. feilbieten. Mit mir drängen andere „Early Birds“ in die Halle, viele dem Klischee-Bilderbuch über den Vinyl-Nerd entsprungen: Meist Männer in den – wie man beschönigend sagt – besten Jahren: einer mit zerschlissenem Metallica-T-Shirt, spärliche Haare halten mit Mühe seine Alt-Punk-Frisur zusammen, ein anderer auf „Forever Young-Tour“ als Hip-Hopper mit umgekehrt aufgesetzter Baseballmütze und bequemem Jogging-Anzug im 80er Jahre-Retrostyle. Nachdem ich meine drei Euro Eintritt an die in dieser Umgebung auffällig junge Frau an der Kasse gezahlt habe, umweht mich ein zart modriger Geruch – nicht unbedingt unangenehm. Direkt ruft er alte Erinnerungen wach. Mir geht es wohl in etwa so wie dem Protagonisten in Prousts Roman „Recherche de la temps perdu“ (Übersetzung vgl. Titel), wenn ihm der süßliches Duft des Madeleine-Gebäcks in die Nase steigt. Vergangenes taucht schemenhaft auf: Partys in feuchten Kellern mit duftenden Räucherstäbchen, verschwitztes Engtanzen zu langsamen und nie enden wollenden Stücken wie „Samba Pa Ti“ von Santana oder „Sailing“ von Rod Stewart in den frühen Achtzigern oder furchtsames erstmaliges Anhören von Dylans „Street Legal“ in den beichtstuhlgroßen Musikkabinen bei Radio Wilden in Ehrenfeld.

 

Soweit sich an diesem Morgen die Ersten vor Ort einfinden, werden sie vielleicht auch getrieben von der Suche nach sinnlichen Erinnerungen, mehr noch aber von ihrem Jagdfieber. Nicht von ungefähr firmiert die Schallplatten-Börse auch als „Sammlerbörse“. An diesem Tag werden sich 600 bis 700 meist männliche Sammler und wenige, meist jüngere Sammlerinnen, an den ca. 50 Stände scharen und in hunderten prall gefüllten Platten-Boxen mit geübten Fingern und hoffnungsglimmenden Augen nach den begehrten Objekten krabbeln. Obwohl der junge Veranstalter der Plattenbörse, der in die Fußstapfen seines Vaters eingetreten ist, mir versichert, dass das Publikum seit etwa 2015 mit dem Siegeszug des „Streaming“ immer jünger werde, teils sich ganze Familien mit ihren Kleinkindern hier vergnügten. Die CD sei ohnehin out, die Jüngeren wieder mehr an der Musik, weniger am stolzen „Besitz“ interessiert.

 

Nicht nur professionelle Händler*innen tummeln sich dichtgedrängt im Foyer der Stadthalle, die bestpositioniert ihre Waren an den längsten und aufwendigst gestalteten Ständen präsentieren. Auch viele Privatleute entrichten den Obolus von 17,50 € pro Standmeter und verscherbeln mit verdruckst lächelnder Miene ihre über Jahrzehnte aufgebaute Plattensammlung. An einem solchen Privatstand versuche ich mein Glück, denn auch ich bin auf der Suche nach einer ganz bestimmten Platte von der australischen Indie-Band „The Go-Betweens“, populär vor allem in den 80ern. Inhaber des kleinen Standes ist Marvin, ein sympathischer Mitte-Zwanzigjähriger. Er muss aber trotz seines bunten Angebots von Jazz, Rock, Funk, Soul usw. auf meine Nachfrage leider passen. Fündig werde ich auch nicht am nächsten Stand, mit einem etwas üppigeren Angebot, übersichtlich sortiert und liebevoll von Hand ausgezeichnet nach Fächern, etwa für Kraut, Progressive, Beatles und Soundtrack. Viele Platten zum sagenhaften Preis von drei oder fünf Euro. Für den ca. 50 Jahre alten sympathischen Spediteur ist das Verkaufen nur ein Hobby. Nur so zum Spaß stoße er Teile seiner ständig wachsenden Sammlung ein bis zweimal im Monat am Wochenende auf den Börsen ab und verdiene dabei jeweils so 150 bis 200 €. Ich versuche meine Erfolgsaussichten zu steigern und steuere den imposantesten Stand der Börse an. Auf 14 Meter Länge finden sich zehntausende Platten aus allen Musikrichtungen und -epochen. Der Herr dieses Imperiums nach eigenen Aussagen fast ein „Global Player“. Weltweit sei er als „Adrenalin-Mensch“ seit zwanzig Jahren mit seinen derzeit ca. 100.000 Platten auf jährlich ca. 50 Plattenbörsen und -messen bis ins ferne Kanada unterwegs (er betont, dass er zwei Kinder habe). Auf die jährlich größte Schallplattenmesse in Utrecht/Holland reise er mit sechs Mitarbeitern und zwei bis drei LKWs an. Die Go-Betweens kennt er natürlich, die von mir ersehnte Scheibe hat er jedoch nicht im Portfolio. Da ich mich als Jazzliebhaber geoutet habe, bietet er mir stattdessen zum Trost eine sehr rare südafrikanische Erstpressung von Dollar Brand aus den 70er für 1.100 € an, was ich freundlich dankend ablehne. Das sei noch lange nicht seine teuerste Platte; für einen hohen vierstelligen Betrag, raunt er, könne ich auch eine seltene deutsche Beatles-Platte erwerben.

 

Ich verabschiede mich und sehe zu, dass ich mich rasch zu einem meinem bescheidenen Budget adäquateren Stand bewege. Immerhin entdecke ich nebenan die erste Platte von den Go-Betweens auf der Börse, „The friends of Rachel Wood“ für schlappe 100 €. Den recht hohen Preis erklärt mir fast entschuldigend der Verkäufer damit, dass es sich um einen Erstdruck in kleiner Auflage aus den 90er handele. Das Sammlerherz bringt diese Mitteilung zwar leicht zum Erzittern, aber es ist gerade nicht die gesuchte Platte; sie wurde mir kurz zuvor vor der Nase weggekauft, so der Verkäufer. Nach der vergeblichen fast einstündige Suche gilt es nun, flexibel Frustkäufe vermeidend nach Alternativen zu graben. Es muss nicht unbedingt eine Platte sein, die unter die Kategorie „Mint“ fällt (absolut neuwertiger Zustand, im Idealfall noch versiegelt – „sealed“ - oder ungespielt), es reicht allemal ein „Very Good“ (VG), bei der sich die Gebrauchsspuren in Grenzen halten.

 

An manchen Ständen im Belagerungszustand ist nur schwer eine Lücke zu finden. Dort knubbelt sich das bunte Volk: Frauen mit Dreadlocks im coolen Hippie-Outfit stöbern lässig nach alten Soulscheiben, Metallfans mit langen ergrauten Haaren fingern mit stoischer Ruhe nach obskurem Heavy-Metall-Material und der etablierte Kenner will seine umfangreiche Sammlung mit einer äußerst raren (und teuren) Jazzplatte von Coltrane krönen. Doch ich warte geduldig bis ich an der Reihe bin. Musikgeschmacklich breit aufgestellt, werde ich auch irgendwann fündig. Aretha Franklins berühmte Live-Aufnahme in einer Kirche „Amazing Grace“ hatte ich schon lange im Auge; zudem fülle ich wieder eine Lücke in meiner breiten „Neil-Young-Sammlung.“ Dies muss für heute reichen, schont auch einigermaßen den Geldbeutel. Auch andere sind zurückhaltend: Schon vom Verkäufer herabgesetzte 40 Euro für den Klassiker von Deep Purple „Made in Japan“ ist meinem Nebenmann immer noch entschieden zu teuer. Und auf Massenankauf bin ich nicht aus, obgleich die Angebote verlockend sind („vier für zehn Euro“). Beim Herausgehen treffe ich einen älteren Mann mit hochrotem Gesicht und einer beeindruckenden Sammlung von Stones- und Beatles-Platten auf dem Arm, die er an einen der Profi-Händler im Saal verkaufen wollte. Mit unverkennbarem kölschen Akzent mault er: drinnen seien nur „Kniesköpp“, die ihn „verarschen“ wollten; 200 Euro für seine 30 Platten habe niemand zahlen wollen. Zehn Euro habe man ihm maximal für die Sammlung geboten, da verkaufe er sie lieber im Netz.

 

Der Fluch der Moderne: Die Flucht vor der Realität ins Internet. Als stets verfügbare Alternative hat dieses aber auch seine Nachteile. Bieten die Plattenbörsen doch jede Menge sinnliche Erfahrungen (Fühlen, Riechen, Sehen) – nur der „Hörtest“ unterbleibt leider – und unmittelbare freundliche Kommunikation mit gleichgesinnten Liebhabern und Kennern von Pop-, Rock- und Jazzmusik in allen Spielarten in der Gemeinschaft der „Börsianer*innen. Wer Vinyl über Internet bestellt, etwa bei discogs (vgl. auch Überblick auf: https://www.musikexpress.de/vinyl-im-netz-die-besten-vinyl-online-portale-im-ueberblick-343051/), ist selber schuld: Er kauft, bezüglich des Zustandes der Platte und der Hülle, die ,Katze im Sack‘. Wer das Echte mag und nicht drei Monate bis zur nächsten Plattenbörse in der Stadthalle warten möchte, der ist in Köln auch zwischenzeitlich gut versorgt. Das „Magazin für Vinyl-Kultur“, die Monatszeitschrift „Mint“, listet in ihrem „Großen Platten-Guide fürs Rheinland“ (Ausgabe 7/2018) allein für Köln siebzehn Plattenläden auf (nur für Mülheim fehlt noch einer...).

 

Was macht die Faszination des Vinyls aus, die den Plattenbörsen und Recordstores einen solchen Hype verschafft hat? Kann man doch an sich jedes gewünschte Stück in Sekundenschnelle streamen und anhören. Zunächst sicher der warme, geschmeidige Sound, der uns von Platte aus den Lautsprechern herausströmend wohlig umfängt und dem nichts Sauberes und Glattes anhaftet. Das Knistern und Rauschen als Begleitmusik nimmt man dabei fast gerne in Kauf, wie auch Kratzer, die wir alle auch abbekommen, hat man mal ein paar Lebensjahre auf dem Buckel. Wer die Mühen der Ebenen des Ankaufs auf sich nimmt, entreißt zudem seine spezielle Musik der Beliebigkeit und ständigen Verfügbarkeit und macht sie zu etwas Besonderem. Sie berührt uns mehr, wir fühlen uns mit ihr, auch vermittelst eines greifbaren, sorgsam gehüteten Objekts, enger verbunden. Hinzukommt der spezielle Charme der Vergangenheit, der besonders der Musik der 60er- und 70er anhaftet, die mit ihrem oft revolutionären Anspruch politisch zudem auf der Höhe der Zeit war. Der Vinyl-Hype ist nicht zuletzt Ausdruck eines krisengeschüttelten Zeitgeistes „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: Je düsterer uns die Zukunft erscheint, desto mehr hängen wir an einer (meist zu glorifizierten) Vergangenheit mit der Musik als Balsam für unsere vernarbten und unsicher gewordenen Seelen. In wenigen Monaten wird die schmucklose Mülheimer Stadthalle wieder zum Mekka der Börsianer*innen werden, die wieder (fast) jeden Preis zahlen für die eine Platte, deren Besitz bei allen gegenwärtigen Schwankungen Sicherheit verspricht und deren nostalgische Magie sie stets an vergangene vermeintlich bessere Zeiten erinnert.

 

Sammlerinnen, eher selten
Sammlerinnen, eher selten

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