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Der lange Marsch durch die Stadtviertel

Fünfzig Jahre danach: Was bleibt von der 68er-Bewegung lokal?

von Francesco Aneto 

 

„You tell me it‘s the institution/Well, you know/You‘d better free your mind instead/But if you go carrying pictures of Chairman Mao/You ain‘t going to make it with anyone anyhow/Don‘t you know know it‘s gonna be Alright, alright, alright“  (Revolution, The Beatles, 1968)

 

Die Revolution hat viele Kinder. 50 Jahre nach dem weltweit politisch sehr bewegten Jahr 1968 sind die Medien voll von Rückblicken und Analysen zur sog. 68er-Revolution. Das Kölner Stadtmuseum wartet aktuell mit einer umfangreichen Ausstellung zu den politischen und kulturellen Ereignisse aus der 68er-Zeit auf. Der Politologe Claus Leggewie zeichnet in seinem gerade erschienenen Buch „50 Jahre 68, Köln und seine Protestgeschichte“ diese anekdoten- und kenntnisreich nach.

Man könnte aber bereits trefflich darüber streiten, ob die maßgeblich von Studentinnen und Studenten initiierten außerparlamentarischen Proteste, Demonstrationen und politischen Gegenentwürfe die strengen Kriterien eines historisch korrekten Revolutionsbegriffs erfüllen (Revolte oder Rebellion würde womöglich besser passen). Das System wurde zwar erschüttert, aber nicht umgestürzt und sollte es wohl ernsthaft auch nicht. In erster Linie wurden die internationale Politik, mit Fokus auf den Vietnam-Krieg, angeprangert, die ausbleibende Aufarbeitung des NS-Unrechts kritisiert und Uni-Reformen angemahnt. Wie die 68er-Bewegung genau einzuordnen ist, mag hier aber Gegenstand der unzähligen wissenschaftlichen Forschungen bleiben. 

 

Was hier und heute uns mehr interessiert, ist eine Antwort auf die Frage, welche Auswirkungen die 68er-Bewegung in den nachfolgenden Jahrzehnten hatte und bis heute für uns hat. Wie hat sie unsere Gesellschaft und auch uns verändert?  Großes Veränderungspotential hatten sicher die „sexuelle Revolution“; auch Anti-AKW-, Umwelt- und Friedensbewegung der 70er und 80er-Jahre sind ohne die 68er kaum denkbar. Offen ist jedoch, wie sich die Auswirkungen lokal zeigen. Deutliche Spuren der 68er-Zeit und seiner Folgen sind jedenfalls auch vor Ort in Köln-Mülheim bis heute zu verfolgen. Mit ein wenig Verspätung schufen sich Mitte der 70er-Jahren zu neuen Ufern aufbrechende kleine Gruppen von engagierten Menschen Räume für alternative, gesellschaftskritische Lebensentwürfe. Bis heute behaupten Sie ihren Platz und gestalten das lokale Leben mit.

Die Anfänge der Rebellion ab 1967 in Köln waren zunächst überschaubar, wenn überhaupt spielten sich politische Aktionen in und um die Uni ab, die auf dem Höhepunkt der Proteste in „Rosa-Luxemburg-Universität“ umgetauft wurde. Es war schon was dran am Spontispruch: „Berlin brennt, Köln pennt“. Einer der gleichwohl umtriebigen Protagonisten damals war Rainer Kippe, der auch heute noch veedelsbekannt sozial aktiv ist. So besetzte er im November 1968 als junger Jurastudent mit hundert anderen während eines des Studentenstreiks das Rektorat, was viele Debatten über die Demokratisierung entfachte, ihm persönlich aber insgesamt 13 Strafverfahren einhandelte. 

Schon damals betreute er mit dem Mitstreiter Lothar Gothe sogenannte Fürsorgezöglinge und gründete mit ihm und anderen 1974 die „Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln“ (SSK), die besonders in der Südstadt und in Ehrenfeld aktiv war. 1979 rief Kippe die „Sozialistische Selbsthilfe-Köln-Mülheim“ für wohnungslose Menschen, psychisch beeinträchtige Menschen und sogenannte Langzeitarbeitslose ins Leben. Er hatte in seinem eigenen Worten genug von „der riesigen Blase an Gelaber“, das Maoisten, Leninisten, Trotzkisten und andere Mitglieder einer der vielen, sich in der 70er-Jahren immer mehr sich untereinander bekriegenden und sich aufsplitternden kommunistischen Gruppen damals so von sich gaben. Er wollte konkret etwas verändern; etwas für Menschen tun.

 

„Die Anfänge aller Dinge sind nämlich klein.“
(De finibus – Über das höchste Gut und das größte Übel Cicero V, XXI, 58 Original lat.: „Omnium enim rerum principia.“) 

In Mülheim stieß er auf andere, schon mehrere Jahre mitten im Stadtteil abseits der üblichen Pfade sozial aktive Menschen, die durch die 1968er-Zeit maßgeblich beeinflusst worden waren. Zu den „Urmüttern“ dieser lokalen Bewegung gehörte Gisela Kochs. Man sei insbesondere inspiriert durch das „politische Nachtgebet“ (eine Art politischer Gottesdienst, in dem seit Oktober 1968 monatlich in der Antoniterkirche über den Vietnamkrieg, die RAF usw. diskutiert wurde) erzählt sie, sich lebhaft an die Anfängen zurück erinnernd, am 21. Juni 2018 auf einem öffentlichen Stelldichein im Bürgerhaus Mütze zur Historie alternativer Arbeits- und Lebensformen im Veedel mit dem Titel „Wie alles anfing. Es begann mit der 68er-Bewegung“; mit auf dem Podium Rainer Kippe und Josef Wandschura.

 

Gisela Kochs gründete mit vier anderen Engagierten 1974 die „Mülheimer Selbsthilfe Teestube e. V.“, „um soziale Arbeit im Viertel zu leisten“. Die Stadt stellte dem Verein ein Haus in der Tiefenthalstraße zur Verfügung, das „Pädshus“, das den Vorteil bot schon damals rollstuhlgerecht zu sein. Ideal also für die im benachbarten Heim der evangelischen Kirche untergebrachten Menschen mit Behinderungen, in dem auch der auf den Rollstuhl angewiesene ehemalige Kaufmann Josef Wandschura wohnte. 

Bald wurden wie er viele andere Bewohnerinnen und Bewohner des Heims von der freundlichen und freieren Atmosphäre im „Pädshus“ und wohl auch vom leckeren warmen Mittagsessen angezogen, das einige um die 70 Jahre alte Nachbarinnen ehrenamtlich täglich zubereiteten. Diese hätten die Fähigkeit besessen, „das Leben kostbar zu machen“, obgleich sie im Krieg viel erlitten hätten, so Kochs auf der Veranstaltung, diese Frauen gerührt würdigend. Diese Mitgründerinnen der Selbsthilfe seien laut Gisela Kochs „besser als Sozialarbeiter“ gewesen.

 

Zwanglos ergab sich das Ziel des Vereins, die Menschen mit Behinderungen zu ermächtigen, sich ein selbständiges Leben außerhalb geschlossener Heime aufzubauen. Die zum Verein stoßenden behinderten Menschen waren dann 1979 auch Garant für den dauerhaften Erfolg der Besetzung einer leerstehenden Tankstelle an der Berliner Straße, der Urzelle für das später hier erbaute Bürgerhaus MüTZe. Diese Besetzung durchzuhalten, war nicht einfach. Die Kirche plante auf dem Parkgelände hinter der Tankstelle des Bau eines Altenheims. Anfeindungen  gab es genug. Eine schnelle Räumung scheute man jedoch, sicher auch wegen der anwesenden Menschen mit Behinderungen. In zähen Verhandlungen mit der Stadt Köln erreichte man später, dass man dauerhaft bleiben konnte.

 

1979 war auch ein entscheidendes Jahr für die Sozialistische Selbsthilfe-Köln Mülheim, die sich später erst Mitte der 80er-Jahre eigenständig vom SSK als Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) organisierte. Die zentrale Frage wäre damals gewesen, so Kippe auf dem Podium im MüTZe, wo man wohnen könne. Eine Lösung wurde durch die vielen leerstehenden Häuser und Wohnungen in Mülheim befördert (im späteren Häuserkampf der 80er-Jahre war Köln neben Berlin an der Spitze). Gemeinsam mit einigen Getreuen, einige von der Mülheimer Teestube waren mit von der Partie, besetzte man vier Gebäude in der Düsseldorfer Straße auf dem Gelände einer alten Schnapsbrennerei. Geschickt, mit viel Chuzpe, Geduld und Widerstandskraft, auch durch Gespräche mit zögerlichen Stadtbeamten, die gelegentlich sogar unerwartet Solidarität bewiesen, und sicher mit einigem Glück, konnten Räumungen manchmal im letzten Augenblick verhindert werden.

 

Nach langwierigen weiteren Verhandlungen konnte die SSM 1993 sogar einen langfristigen und günstigen Mietvertrag mit der Stadt Köln abschließen (ausschlaggebend war dabei auch die bemerkenswerte Integrationsarbeit der Gruppe). Bis heute betreut die SSM einen selbstverwalteten Betrieb, der vor allem Wohnungsauflösungen, Transporte und Gebrauchtwarenverkauf umfasst, der die Existenz der Mitarbeiter sichert. 

Das 20-jährige Jubiläumsheft der SSM, in der wie in dem Band zum 30sten-Jahrestag die wechselvolle und spannende Geschichte ausführlich beschrieben ist (download dieses und auch des Bandes zum 30-jährigen Jubiläum auf der Website des Vereins), hat nicht umsonst den Titel „20 Jahre Utopie“. Ziel sei auch heute, so Kippe, resümierend auf der obigen Veranstaltung im MüTZe, Emanzipation und Empowerment zu stärken, beispielhaft sind für ihn heute die aktuellen Aktionen gegen den Autowahn im Viertel, etwa auf der Berliner Straße und gegen Immobilienspekulationen. Das bloch´sche Prinzip Hoffnung scheint für Gisela Kochs heute noch leitend zu sein. Sie hoffe noch immer, sie erlebe es, dass endlich ein ausreichendes Grundeinkommen für alle Menschen eingeführt werde. Angesichts der weltweit drohenden Katastrophenszenarien, finsteren nationalistischen und rassistischen Entwicklungen an sich ein bescheidener Traum, der relativ leicht erfüllt werden könnte.

 

Was bleibt von den 68er vor Ort? Sicher die weiter für den Stadtbezirk engagierten Initiativen und Vereine, neben dem SSM und dem Kulturbunker, „Wohnen am Strom“ und viele andere. Aus dem vergangenen 50 Jahren sozialer und alternativer Bewegung im Stadtteil lassen sich für Gegenwart und Zukunft vielleicht folgende Lehren ziehen:

Zum einen die Erkenntnis, dass soziale Initiativen vor Ort erfolgreich sind, wenn sie sogenannte Randgruppen und besonders Bedürftige mit aufnehmen; weil deren Ideen und Erfahrungen bereichern und nur so die Verhältnisse zu ändern sind, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Karl Marx). Zum anderen, dass nur sich solidarisch verhaltende sowie respektvoll begegnende Gemeinschaften über Meinungsgräben hinaus, die Auswüchse des Kapitalismus wirksam bekämpfen, wirklich auf Dauer etwas erreichen und die Zukunft neu gestalten können. Sich nur intern ideologisch verbrämt zu beharken, führt letztlich nur zu Streit, Frust und Leere. Schließlich gilt für die Praxis ansonsten die immer noch aktuelle Lebensweisheit des alten Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ – wovon Gisela Kochs und Rainer Kippe und viele andere Engagierte an diesem lauen Juniabend im MüTZe beredet Zeugnis geben konnten. 

 


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