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Heim für Bücher und mehr

Auf dem Weg zum Rhein

Bücherwand im Trödelcafé auf der Buchheimer Straße. Foto: Raven Rusch
Bücherwand im Trödelcafé auf der Buchheimer Straße. Foto: Raven Rusch

von Francesco Aneto

Fotos: Raven Rusch

 

„Der Terror des Gleichen erfasst heute alle Lebensbereiche. Man fährt überallhin, ohne eine Erfahrung zu machen. Man nimmt Kenntnis von allem, ohne Erkenntnis zu gelangen. Man häuft Informationen und Daten an, ohne Wissen zu erlangen. Man giert nach Erlebnissen und Erregungen, in denen man sich aber immer gleich bleibt. Man akkumuliert Friends and Follower, ohne je einem anderen zu begegnen. Soziale Medien stellen eine absolute Schwundstufe des Sozialen dar.“ (1)

 

Ein typischer Apriltag Ende März. Tagsüber hatte sich alle zehn Minuten Sonnenschein mit Regen und teils Hagelschauer abgewechselt. Als wollte das Wetter uns sagen: Beständig ist nur der Wandel und macht euch stets auf alles gefasst! Die Abendsonne taucht die Buchheimer Straße in ein sanftes Rotlicht. Ich bin auf dem Weg zum donnerstäglichen offenen Spieleabend im Trödelcafé. Passiere die Kneipe „Kölsche Jung“, die Hauswand drapiert – obwohl heute kein Länderspiel stattfindet – mit einer kinderzimmergroßen Deutschlandfahne. Auf der Straße vor dem Lokal lümmeln sich lautstark ein paar Alkis, die auch dem „Goldenen Handschuh“(2) entsprungen sein könnten. Von Drinnen schalt wenig einladend eine Art „Kölsch-Techno“. Daneben im Discounterstyle die Zahnarztpraxis „Fair Doctors“(3) , die mit kostenlosem Zahnersatz wirbt - sehr praktisch, so hat man es nach einem aus dem Ruder gelaufenen Besuch des „Kölschen Jung“ nicht weit. Rechts davon ein verwaistes Gebäude, bis 1970 war dort ein Mülheimer Kino, klaffend wie eine zu große Zahnlücke. Etwas weiter die Straße hoch das SPD-Abgeordnetenbüro, die lokale Heimatstätte unter anderem des medial präsenten Professors mit der natürlich roten Fliege und des gescheiterten(4) Parteikarrieristen Börschel. Doch ich bin schon am Ziel: Das Trödelcafé liegt vor mir. Gelegen zwischen der altehrwürdigen Hirschapotheke, einer Bastion des Bürgerlichen, einem Thai-Imbiss sowie einem „global agierenden“ Computer- und Internetladen mit dem lustigen Namen „Com Komm Treff“. Ich betrete den ersten Raum, der mit seinem warmen Licht wie ein Lagerfeuer in der Wildnis wirkt. Bei mir, als seit frühester Kindheit Bibliophilen, löst er direkt Begeisterung aus. Nur etwa achtzehn Quadratmeter groß ist jede freie Wandfläche mit selbstgebauten Regalen bestückt, die voll sind mit Büchern, aber auch CDs, DVDs und einigen Schallplatten. Die Bücher sind liebevoll sortiert nach verschiedenen Themen und Genres.(5) Unfassbar, dass dieser kleine Raum mit Nebenraum über 10.000 Bücher beherbergt. Herbergsvater und seit Sommer 2018 Betreiber dieses Antiquariats mit dem besonderen Charme ist Tom Laroche. Meine erste Frage liegt auf der Hand. Weshalb nennt sich das kleine Antiquariat „Trödelcafé“, wo doch weit und breit kein Trödel zu sehen ist? Tom klärt mich auf. Bis vor einem Jahr war das Trödelcafé der Ableger einer kleinen christlichen Gemeinde, der Metropolitan Community Church e. V. (MCC), davor fungierte es als Gemeindetreff. Bis vor kurzem prangte über dem Fenster das entsprechende Logo mit Regenbogenfahne und der Slogan mit dem Kernverständnis: „Menschen begegnen, Christus erleben, Community gestalten“. Tom hatte ehrenamtlich den Laden zuvor zehn Jahre betreut und den ehemaligen Trödelladen nach und nach zu einem Bücherantiquariat weiterentwickelt. Seine Chance kam, sein Konzept vollständig nach eigenem Gusto umzusetzen, als die Gemeinde beschloss, sich von ihrem Objekt zu trennen. Die Fortführung auf eigenen Füßen lag nahe, denn Tom hatte schon früher viele Jahre in einem großen Antiquariat gearbeitet, im Mauritiussteinweg im Antiquariat von Peter Weber.

 

Wir haben noch etwa eine halbe Stunde Zeit und kommen ins Plaudern. Zu Beginn sah es gar nicht so aus, als würde sich der heute 41 Jahre alte Tom vollends den Büchern verschreiben. Geboren ist er in Luxemburg. Sein Vater war Architekt.(6) Die Familie übersiedelte nach Köln als Tom noch klein war. Nach dem Abitur war er hauptsächlich DJ und Partyveranstalter, obgleich eher Bücherwurm als Partyschlange.(7) Legte auf Veranstaltungen im Gloria auf oder kreierte eine 70er/80er-Party im Zeughaus24. Über die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus war er zu Beginn der 2000er oft in Berlin im Einsatz, später mehr in NRW und Ende der 2000er hat Tom große Produktionen, etwa im damaligen Tarmcenter hier in Köln, in der Zeche Carl in Essen oder in der Königsburg in Krefeld mitverantwortet. 

 

Seit nunmehr 18 Jahren veranstaltet er eine Partyreihe in Münster. Zwischendurch gründete er ein Szene-Magazin mit dem Namen „Flash“. Zudem lebte er daneben seine künstlerische Ader aus. Malte und präsentierte seine Werke etwa im Spanischen Bau im Rathaus. Doch nun baut er mit seiner immerwährenden weiteren Passion, den Büchern, ein neues berufliches Haus. Damit dieses sicher steht, bildet er das Fundament mit einer weiteren Leidenschaft: dem Erfinden von Gesellschaftsspielen. Seit einiger Zeit arbeitet er mit dem renommierten Spieleerfinder Jens-Peter Schliemann zusammen und entwickelt Spielkonzepte, Brettspiele und kommunikative Spiele. Wir sind beim richtigen Thema, da so langsam der um 19.30 Uhr beginnende Spielabend dräut. Er zeigt mir noch schnell seine beeindruckende Sammlung von circa 200 Spielen im hinteren Raum. Neben beliebten Klassikern wie „Carcassonne“8 und „Siedler“ auch Neuheiten wie „Azul“ oder weniger bekannte Geheimtipps wie „Speicherstadt“ oder „Vineta“. 

Die Teilnehmer des heutigen offenen Abends trudeln so langsam ein: Johann, Justus, Gerda und Christian.(9) Man ist natürlich sofort beim „Du“. Versorgt mit Getränken und Knabberei geht es auch schon los. Als erstes wird ein noch im Entwurfsstadium befindliches Quizspiel von Tom getestet, das er möglicherweise zusätzlich in anderen Formaten bald auf den Markt bringen will. Die Regeln sind recht zügig begriffen, da gut erklärt. Im Kern treten zwei Gruppen gegeneinander an, die aus jeweils vier möglichen Antworten auf eine Quizfrage die richtige erraten müssen (in Wirklichkeit ist es etwas komplizierter). Die Fragen sind nicht einfach, aber sehr spaßig. Alle rätseln munter. Ich fehle mehrmals. Ein „dampfgetriebenes Amphibienfahrzeug“ war jedenfalls nicht der Hit bei der Eröffnung des Frascati-Gartens 1846 in Paris. Was nannte man die „Rattenlinie“? Welche Stadt ist das „Jerusalem des Westens und Nordens“? Ganz spannend wurde die Auswahl vier möglicher Antworten bei der Frage, ob „Anus“ und „Anal“ vom Aussterben bedrohte Steckrüben, Muscheln, Sprachen oder Rechenarten sind? Einmal im Fieber schiebt die Runde noch „Outburst“ nach, ein altes Quiz aus den 90er Jahren. Hier müssen die beiden gegnerischen Gruppen innerhalb einer Minute assoziativ Antworten auf eine Frage finden. Je mehr sie nennen, umso größer ist die Chance, aus den von zehn gesetzten Antworten möglichst viele zu treffen. Für jede richtige Antwort gibt es einen Punkt und die Mannschaft darf mit ihrer Figur auf dem Spielfeld weiterrücken (mit einem Würfel kann man die Punkte noch um zwei erhöhen). Die Runde sucht teils ein wenig verzweifelt zehn Wassersportarten, zehn russische Schriftsteller oder Komponisten, zehn Filme von Humphrey Bogard oder zehn Romane von Heinrich Böll (bei letzter Frage versagen wir, Schande für die Kölner, ziemlich kläglich).(10) Angeregt von den Quizspielen liegen die Gesprächsthemen wie verstreutes Salz auf dem Tisch. Man unterhält sich über Lieblingsfilme wie „Panzerkreuzer Potemkin“, Musik, natürlich Literatur, streift aber auch lokale Themen, wie die horrend steigenden Mietpreise in der Stadt oder das verlebte Kölschrock-Original Jürgen Zeltinger, über den kürzlich eine Doku erschienen ist. Die Zeit vergeht schnell, es herrscht ein recht vertrauter Ton. Doch später am Abend stehen die Sieger fest und die Runde löst sich langsam auf.

 

Tom und ich bleiben noch ein wenig bei den Büchern. Die meisten Bücher um uns herum haben Besucherinnen und Besucher vorbeigebracht. Tom verkauft sie zu moderaten Preisen. Die Stärke des Trödelcafés, in dem einem selbstverständlich zum Schmökern auch Kaffee angeboten wird, liege in der großen Menge an unterschiedlichen Büchern, so Tom. Es gäbe Krimis, Kinderbücher, Ratgeber, Kunstbände, Bücher zu Philosophie und Geschichte, politische Biographien, tolle Bildbände, Kölnbücher, klassische Romane und vieles mehr. Ein besonderes Auge hat Tom auf fremdsprachige Bücher geworfen. Neben den englischen Titeln, habe er aktuell viele Werke in romanischen Sprachen, wie Französisch, Spanisch oder Portugiesisch. Er biete aber auch japanische, türkische oder russische Bücher an, obligatorisch im multikulturellen Mülheim. Bücher seien für ihn jedoch nicht nur Träger von geistigen Inhalten und Aussagen, sondern oft auch Kunstobjekte, die Buchbinderei, Illustration und Typologie kongenial verbänden. Wirklich Angst vor der Digitalisierung als Konkurrenz hat er nicht. Die Chance des Buches für die Zukunft sieht er im Buch als Objekt, das mit wertigen Materialien und liebe- und kunstvoll gestaltet ist. So seien auch alte ledergebundene Bücher oder Erstausgaben nicht ersetzbar. Nicht verwunderlich, dass er ein besonderes Faible für sogenannte Pop-Up-Bücher hat, ein paar besonders schöne Ausgaben zeige er auch hier. 

 

Zum Schluss meines Besuches kommen wir noch auf den Stadtteil zu sprechen, den er mit seinen Projekten beleben will. Ihm gefalle Mülheim mehr und mehr, vor allem der Teil Mülheims zum Rhein hin. Das Ausgehangebot habe sich schön entwickelt. Liebevoll geführte Gastronomien wie das Café jakubowski und die Vreiheit machen den Stadtteil lebenswert. Das Beymeister- Projekt sei ein kleines Refugium. Er begrüßt das Engagement rund um die La Ranzeria und freut sich über die langsam wachsende Anzahl spezialisierter inhabergeführter Geschäfte. 

 

Er glaubt, dass in Zeiten sozialer Unsicherheit und medial geschürter Ängste ein solidarisches Miteinander mit anderen Menschen und ein offener Austausch sehr wichtig seien. Hierfür wolle er gerne einen Raum bieten. Viele tolle Menschen besuchten regelmäßig das Trödelcafé und gäben positives Feedback. Ihn ärgere, dass in schändlichem Ausmaß, besonders in den reichen Länder, unnütz Ressourcen vergeudet würden. Mit seinem Geschäftsmodell wolle er dem ein wenig entgegenwirken: Bücher seien ein wichtiges Kulturgut. Man bemühe sich daher, dass der größtmögliche Anteil der überlassenen Bücher wieder in gute Hände komme (dem Autor ist es mal gelungen, sein eigenes Buch nach circa einem Jahr unbewusst wieder zu erwerben). Nicht jedes Buch lasse sich nachhaltig „retten“, manche seien zerschlissen oder inhaltlich veraltet, und wenn auch eine kostenlose Abgabe an Dritte scheitere, bliebe letztlich nur das Recycling. 

 

Ich muss nun auch nach Hause. Es ist spät geworden. Ein sehr unterhaltsamer Abend, mit lehrreichen Erkenntnissen und netten Begegnungen geht zu Ende einmal ohne Netflix, You-Tube, Facebook und Co. So bereichert verlasse ich die hoffentlich noch lange bestehende Heimat der Bücher und Spiele und gehe froh die spärlich beleuchtete Buchheimer Straße hinab. 


Tom Laroche in seinem Ladenlokal auf der Buchheimer Straße. Foto: Raven Rusch
Tom Laroche in seinem Ladenlokal auf der Buchheimer Straße. Foto: Raven Rusch

Preisrätsel aus Fußnoten

Jetzt wird es kniffelig. Unter den richtigen Einsendungen verlosen wir fünf Buch-Gutscheine im Wert von je 25 Euro, die Sie im Buchladen einlösen können. Bereitgestellt werden die Gutscheine vom Buchladen und von der Mülheimia Quarterly. Bitte füllen Sie das Formular aus. Einsendeschluß ist der 1.7.2019. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

 


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